Die verschwundene Bibliothek

 

Das Bild hängt schon wieder schief, sagte Nina, das ärgerte mich. Irgendwann nehme ich es ab, und wir werden sein Fehlen gar nicht bemerken.

Ich aber sehr wohl, gab ich zurück, denn für mich bedeutet es noch immer viel, obwohl es künstlerisch nicht besonders wertvoll ist, zugegebenermaßen. Ich erzählte dir ja mal, dass Herr Folder es mir schenkte, als ich während meines Studiums eine zeitlang in seinem Antiquariat arbeitete, als Aushilfskraft bei bescheidener Entlohnung.

Nina lächelte: Du hast es ihm abgebettelt, weil du so fasziniert davon warst. Dabei erkennt man kaum, um was für eine Landschaft es sich handelt. Die grauen und blauen Töne verschwimmen alle ineinander, der Himmel wirft ein mattes Licht auf die ganze Szenerie. Das soll wohl irgendwie modern sein.

Darum geht es nicht, Nina, erwiderte ich. Herr Folder kränkelte damals schon  schwer, litt an einem festsitzenden Husten, offenbar hervorgerufen durch das ewige Staubschlucken bei seinen alten Büchern. Schließlich mussten Frau Reith und ich ihn ins Martinus-Krankenhaus bringen. Dort wurde er sofort an der Lunge operiert, erholte sich nur langsam. Frau Reith, seine Stellvertreterin, führte noch ein halbes Jahr lang die Geschäfte weiter, und mit Erfolg. Doch der alte Herr hatte sich bereits dazu entschlossen, den Laden aufzugeben und die Bücher zu veräußern. Eine zeitlich aufwendige Sache, wie sich herausstellte, so dass Herr Folder die bedeutendsten Stücke am Ende der Bibliothek des Kloster Andechs am Ammersee in Oberbayern anbot, sie ihr als Schenkung vermachte. Dort hatte er oft seine Urlaube verbracht und davon geschwärmt. Darüber war ich sehr traurig.

Wieso traurig, fragte Nina. Weil die weniger wertvollen Bücher unter die Räder gerieten und später als Ramschware verkauft werden mussten, entgegnete ich, in hässlichen Holzkisten draußen vor dem Laden. Ich konnte das nicht mitansehen, bin gar nicht mehr hingegangen. Frau Reith fand zum Glück bald eine neue Stelle, und ich hatte mit meinem bevorstehenden Examen zu tun.

Würdest du die Bücher wieder erkennen, auch wenn es lange her ist, fragte Nina. Wir können ja mal einen Abstecher nach Andechs machen, wenn wir unsere Freunde in München besuchen. Das dürfte kein allzu großer Umweg sein.

Wahrscheinlich fände ich sie nicht wieder, sagte ich, in der wohl riesigen Bibliothek. Nur an eins kann ich mich noch erinnern. Es war die Erstausgabe von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1781, ein wahnsinnig teures Stück. Es kostete damals schon mehrere tausend Mark und lag in einer verschlossenen Vitrine, ausgestellt wie die Büste der Nofretete in diesem Museum in Berlin.

Nina betrachtete aufmerksam das Bild und meinte nach einer Weile: Du blickst also da hindurch, gleichsam in deine Vergangenheit, als bewegte sie sich auf dem Hintergrund. Die Bibliothek scheint verschwunden, aber das kann nicht alles sein. Was siehst du noch?

Ich habe den heiligen Berg vor Augen, auf dem sich das Kloster erhebt, sich spiegelnd im See, und ich sehe, wie die Pilger dort hinaufziehen, sagte ich. Kloster Andechs war jahrhundertelang ein vielbesuchter Wallfahrtsort und dient auch heute noch dazu, soweit ich weiß, besonders an hohen Feiertagen. Die Frommen wandern über den Berg, halten Einkehr in der Kirche und stöbern danach vielleicht noch ein wenig in der Folderschen Bibliothek.

Nina stand auf, rückte das Bild grade, schmunzelte: Ganz in seinem Sinne …

Es ist auch sicher in seinem Sinne, wenn sie hinterher von dem berühmten Bier kosten, das dort seit alters gebraut wird, bemerkte ich und ging in die Küche, holte eine Flasche aus dem Kühlschrank. Prost, Nina, rief ich, auf dich und auf Immanuel!

Hartmut (Edzard) Herlyn, Düsseldorf; *1943