Der achte Schwabe

 

Wenn man abends nach Hause kommt, müde von der Arbeit, dann sehnen sich Körper und Seele nach einer Erfrischung. Die meisten Menschen trinken erst mal ein Glas Sprudel, stellen den Fernseher an. Aus Gewohnheit oder Neugier? Viele Nachrichten, die aus aller Welt, sind unangenehm, finde ich, und das Wetter ist eh immer das gleiche. Nein, damit möchte ich mich nicht auch noch belasten.

Ich treffe eine bessere Entscheidung und trete vor mein großes Bücherregal. Oft greift meine Hand nach einem Buch, das noch aus Kinderzeiten herübergerettet wurde, ein Band voll mit alten Sagen. Wunderschön, wie sie noch immer hervorkommen in ihrer Darstellung menschlicher Schicksale, aber auch der Humor gerät nicht zu knapp. Am liebsten lese ich dann das Märchen von den sieben Schwaben, amüsiere mich schelmisch über ihre Streiche.

Denn diese kleine Truppe wackerer Männer ging recht raffiniert vor. Sie stellte sich zunächst dumm und übertölpelte dann gutgläubige Mitbürger, um Gewinn daraus zu schlagen. In der Regel aber waren es die reichen Oberen, die ihren Schaden davon hatten. Und eh die Sieben gefasst wurden, waren sie schon längst über alle Berge. Hart an der Kriminalität vorbeigeschrammt, so würden wir das heute nennen.

Einmal aber übertölpelten sie sich selbst auf nahezu peinliche Weise. Ihr Anführer litt nämlich unter der fixen Idee, daß in einem Berg irgendwo dort in Oberschwaben ein böser Drache hause, den man erlegen müsse. Als sie eines Tages verdächtige Geräusche hörten, stürmten sie, bewaffnet mit ihrer Lanze, drauflos und sahen nichts anderes als einen kleinen Hasen vorbeihoppeln. Der schnupperte sogar noch keck an der Lanzenspitze. Verlegene Gesichter ringsum, und diese schiefgelaufene Aktion führte zu einer ersten Krise in der Gruppe.

Du könntest dort ja eigentlich mal Urlaub machen, sagte ich mir, da unten in der heiteren Provinz. Die Landschaft soll sehr reizvoll sein, der bodenständige Wein sei nicht zu verachten, heißt es allgemein. Und in Gedanken reimte ich schon: Ob heute noch die Sieben Schwaben verwegen durch das Ländle traben?

Der Sommer stand vor der Tür. Kurzentschlossen bepackte ich meinen alten Klappergaul, der unsäglich viel Benzin schluckte, und ritt los. Das Quartier hatte ich bereits per Telefon ausgemacht. Nun, nach Baden-Württemberg tuckert es sich ziemlich, doch bald hinter Stuttgart sieht der Reisende mächtige Weinberge in den Himmel ragen, stolz ihre Pracht zeigend. Der Anblick entschädigt für die Strapazen, ja bewirkt ein sanftes Prickeln auf der Zunge in Vorahnung kommender Köstlichkeiten.

Sie müssen sich sicher noch ein bißchen eingewöhnen, sagte der Wirt, wie ich durch den Eingang des Gasthofes trat. Sein Inneres ließ Staunen in mir aufkommen, denn überall waren die Wände, die Flure und selbst das Treppenhaus mit antiken Möbelstücken zugestellt. Mit Vitrinen, aus denen Porzellan hervorschimmerte. Und darüber hing in Halterungen uraltes Waffenzeug, Pulverbüchsen und Armbrüste.

Mein Großvater galt als passionierter Sammler, fuhr der Wirt fort, unser Haus gleicht einem Museum, aber die Gästezimmer sind modern eingerichtet. Die Menschen wollen es im Urlaub ja bequem haben, denken heute ganz anders. Bei Vergnügungen geht es manchmal etwas außer der Reihe her, wissen Sie. Er zuckte die Achseln: Man kann sich seine Gäste nicht immer aussuchen.
Was es mit der Herumdruckserei auf sich hatte, sollte ich nur allzu bald erfahren. Ein Kegelklub war es, der sich gerade im Gasthaus einnistete, mit Männern so mittleren Alters und aus der Gegend stammend. An sich nichts Ungewöhnliches, Kegelvereine trifft man heute überall. Diese Herren aber fielen sogleich unangenehm auf.

Sie polterten schon auf einer Kegelbahn ganz in der Nähe herum, kreischten laut dabei. Der Tag begann für sie mit dem Abstauben von Weinetiketten, dem Trinken aus Flaschen unter Zuhilfenahme von langen Strohhalmen. Mittags ließen sie sich in den Restaurants Berge von Butterspätzle servieren und danach ging´s ans Kartenzocken in einem Kaffeegarten. Dort warfen sie den jungen Kellnerinnen oft freche Sprüche hinterher, peinlich in ihrer Eindeutigkeit.

Wie kann man nur so wenig Anstand wahren, entrüstete ich mich. Wenn das die guten alten Schwaben noch erlebt hätten, sie wären vor Scham im Boden versunken! Nein, mit solchen Leuten wollte ich nichts zu tun haben, überhaupt nichts.

Von der Landschaft jedoch, von der lieblichen Landschaft war ich mehr als angetan. Und die vielen Wanderwege durch die Höhen auf und ab verlockten zum Marschieren. Dabei tauge ich eigentlich nicht dazu, bleibe viel zu oft stehen, erfreue mich an einer Baumgruppe oder an einem alten Bildstock. Wenn eine von diesen kleinen Barockkirchen vor meinen Augen auftaucht, zieht es mich in sie hinein. In der ersten Reihe sitzt eine Frau, ihr Haar von einem dunklen Tuch verhüllt. Ein Mann tritt vor den Altar, kniet nieder und beginnt zu beten. Wann hast du das letzte Mal gebetet, frage ich mich dann.

An einem Nachmittag kehrte ich schon zeitig wieder zurück, denn meine Füße lahmten in der Sommerhitze. Das Eßzimmer zeigte sich noch leer und auch die Kaffeetassen waren noch nicht aufgedeckt. Ach so, der Wirt befand sich ja heute ausserhalb auf einer Hochzeit, fiel mir wieder ein. Hielten die anderen ein Mittagsschläfchen? Nur der Stundenschlag einer Pendeluhr klang durch die Stille.

Da vernahm ich über mir ein seltsames Geräusch, wie wenn jemand nervös mit einem Schlüsselbund klirrt, den richtigen Schlüssel findet und ihn in ein Türschloss stößt. Er lief in das Zimmer, rannte hin und her, und ich hörte Gepolter, dann den gepreßten Schrei aus der Kehle einer Frau: Zu Hilfe, Polizei! In Gottes Namen, Hilfe! Gerangel darauf und ein dumpfer Schlag.

Mir war klar, es lag jetzt an mir, zu Hilfe zu eilen. Ich stieg die Treppe hinauf, überlegte, sah eine Lanze an der Wand, riß sie aus ihrer Halterung und lief nach oben. Die Waffe war schwerer als ich angenommen hatte. Es gelang mir nur mit Mühe sie hochzuhalten, aber mutig stürmte ich drauflos.

Der Mann kam gerade aus dem Zimmer gelaufen mit einem Lederkoffer in den Händen, blieb erschrocken stehen, wie er mich sah. Doch die Lanze riß mich weiter. Dann prallte ich auf seinen Körper und das schwere Holz entglitt mir, fiel krachend auf den Boden. Der Mann stürzte zur Seite. Wie furchtbar, dachte ich, beinahe hättest du ihn schwer verletzt in deiner Blindwütigkeit.

Vom Lärm aufgescheucht lugten ein paar andere Gäste aus ihren Zimmern und sie blickten mit aufgerissenen Augen auf das Geschehen: Was ist denn hier los? Drei von den Kegelbrüdern erschienen ebenfalls auf dem Korridor, diesmal ausnahmsweise etwas nüchterner. Wir alle umringten den Mann, der da am Boden saß und den Koffer umklammert hielt. Er sah uns mit trotzigem Gesichtsausdruck an, und stumm.

Nein, wir benachrichtigten nicht die Polizei, rief die überfallene Dame, das bringt nichts. Sie trat herzu, strich ihr arg zerzaustes Kleid glatt. Der Knoten auf ihrem straff nach oben gekämmten Har verrutschte, doch sie schien sich zu beherrschen.

Wie bitte, fragte ich empört und noch ganz außer Atem, das hier war ein kompletter Raubüberfall. Wir müssen sofort die Polizei rufen und den Übeltäter festnehmen lassen. Wer weiß, was er schon alles angestellt hat.

Die Dame unterbrach mich: So sollten wir nicht vorgehen, nein. Sie sehen doch, in welch trauriger Verfassung sich dieser Mann befindet. Wenn wir ihn der Polizei übergeben, würde das die Sache nur noch schlimmer machen, die Zukunft wäre ihm verbaut. Es wäre besser, wir fragten ihn zunächst, warum er sich so verhält. Dann können wir ihm vielleicht weiterhelfen.

Vielen Dank für Ihre Predigt, entgegnete ich, hört sich toll an, ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Kerl straffällig geworden ist.

Die Frau hob den Kopf und sah mir fest in die Augen: Sagen Sie, haben Sie noch nie etwas von tätiger Nächstenliebe gehört? Und sie faltete die Hände.

Noch immer schwieg der Mann, blickte uns nur staunend an, wie angewurzelt am Boden hockend. Ein kurzer Augenblick der Stille, als die Leute da verlegen von einem Fuß auf den anderen traten und nicht zu wissen schienen, welche Haltung einzunehmen sei.

Dann näherten sich zwei der Schwaben dem Mann, sehr beherzt. Sie faßten ihn bei den Armen, hoben ihn hoch und führten ihn die Treppe hinunter in Richtung Schankraum. Auf diesen Scheck haben wir uns wohl ein tüchtiges Gläschen verdient, lachte der eine. Die anderen folgten ihnen.

Ich blickte irritiert hinter ihnen her. Was hatte ich nur falsch gemacht, was um alles und der Welt? Kommen Sie, sagte die Dame und legte ihre Hand auf meine Schulter, ich denke, da gibt es für uns noch eine Menge zu tun.

Hartmut (Edzard) Herlyn, Düsseldorf; *1943