Heimkehr nach Nias

 

Als ich mit dem Schiff im Hafen von Gunung Sitoli ankam, erzählte die alte Dame, wurde ich unter Jubelrufen und mit lachenden Gesichtern von den Einwohnern empfangen. Die Kinder hingen wie Kletten an mir. Alle freuten sich, eine weitere Missionsschwester bei sich zu haben, die ihr Wohl und Weh im Auge behielt. Vor allem das gerade erst errichtete Krankenhaus benötigte dringend Fachkräfte zur Versorgung der Kranken. Ich war damals noch sehr jung, hatte meine Ausbildung bei der Rheinischen Missionsgesellschaft in Wuppertal-Barmen abgeschlossen und wurde nun zum Dienst nach Nias bestellt. Meine Eltern, ohnehin nicht erbaut von meinem Berufswunsch, wussten nichts mit dieser Insel anzufangen. Sie ließen ihr einziges Kind nur ungern ziehen, respektierten jedoch meinen Willen, Menschen in unterentwickelten Ländern zu helfen und ihnen tätig die Botschaft von Jesus Christus nahe zu bringen. Nias liegt unweit der bedeutend größeren Insel Sumatra im Indischen Ozean auf der anderen Seite unserer Erdkugel. Die gesamte Gruppe bezeichnet man als das Indonesische Archipel.

Leben da auch Menschenfresser, fragte ein Junge. Schwester Elfriede lächelte: Nein, aber in früheren Zeiten gab es dort Männer, die Menschen einfingen und sie als Sklaven an die reichen Adeligen der Insel verkauften, und diese Erbeutetem verloren jegliche Rechte. Der holländischen Kolonialregierung gelang es nach hartem Durchgreifen, solch grausame Praktiken abzuschaffen. Die Holländer unterhielten schon seit mehreren hundert Jahren eine Handelsstation in Gunung Sitoli, der Hauptstadt von Nias. Das war ein einträgliches Geschäft für sie mit kostbaren, in aller Welt begehrten Gewürzen.

Haben Sie dort viele wilde Tiere gesehen, platzte ich heraus. Für Kinder ist es immer aufregend, wenn Erwachsene von fremden Ländern erzählen mit Abenteuern, die sie bestehen mussten. Mit offenen Mund hörten wir Schwester Elfriede zu, die Kinder aus der Nachbarschaft und ich, wie sie so spannend aus dieser Zeit berichtete, und von wirklich erlebten Abenteuern. Ab und zu durften wir sie besuchen, was jedes Mal zu einem Nachmittag voller Erlebnisse wurde. Sie umkreisten auch mich in ihrer ganzen Faszination, bis heute anhaltend.

Der Dienst war schwer, erzählte sie weiter, denn er galt ebenso den Kranken in den umliegenden Dörfern. Fast jeden Tag fuhr ich mit dem Missionsarzt in einem Jeep zu ihnen. Den hatten uns die Holländer für die stets holprigen Landwege zur Verfügung gestellt. Manchmal begegnete uns dabei einer von den grimmig dreinblickenden Männern, lange, scharfe Speere in seinen Händen. Aber sie machten nur noch Jagd auf Wildschweine und Phyton-Schlangen in der Absicht, die Häute an Händler zu verkaufen.. Wunderschön dagegen immer der Anblick der vielfältigen Pflanzenwelt und der Blumen, besonders der Orchideen. Von ihnen gibt es auf Nias mehrere hundert Arten. Unglaublich große Schmetterlinge mit schillernden, feuchten Flügeln lassen sich auf ihnen nieder, ein Schauspiel, an dem ich mich nicht sattsehen konnte. Dazu blieb mir selten genug Zeit. Von den zahlreichen exotischen Vögeln hatte es mir vor allem der Beo angetan, ein fröhlicher Geselle aus der Familie der Stare. Er pfeift lustige Melodien und ahmt die Stimmen anderer Vögel nach. Die Niasser sagen, er könne sogar sprechen.

Sind die Leute auf Nias immer nett, wollte ein Mädchen wissen. Ja sicher, nach außen hin immer, erwiderte Schwester Elfriede. Sie sind ein heiteres Volk, was wohl in ihrer glücklichen Kindheit begründet liegt, und sehr gastfreundlich. Aber sie können auch ganz schön hinterhältig reagieren, wenn ihnen etwas nicht passt oder sie sich gekränkt fühlen. Stolz auf ihre alte Kultur, vertragen sie keine Kritik an ihrer hergebrachten Lebensweise. Sie nehmen nur die Hilfe von anderen an, die ihnen uneigennützig entgegengebracht wird. Das spüren sie sofort. Die deutsche Mission bot ihnen neben der Krankenversorgung einen Kindergarten, eine Elementarschule, ein Lehrerseminar, ein katechetisches Seminar für angehende Pastoren und die Arbeit in der nahegelegenen Kautschuk-Fabrik. Ja, und da war natürlich die große Kirche hoch über dem Hafen. Sie überragte damals allen anderen Gebäude in ihrem wunderlichen Stilgemisch aus europäischen und einheimischen Bauelementen. Die Gottesdienste gestalteten sich jedes Mal zu einem Fest und die Besucher sangen laut mit wohltönendem Stimmen, klatschten dabei in die Hände. Schwester Elfriede hatte inzwischen ein kleines Haus aus Holz vor uns hingestellt , die Nachbildung eines alten niassischen Häuptlingshauses. Es entpuppte sich als Geduldsspiel, denn man konnte es Klötzchen für Klötzchen ganz auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Mit vielen anderen orginellen Souvenirs hatte sie es in einem riesigen Frachtkoffer nach Deutschland herübergerettet. Wir Kinder jubelten vor Entzücken.

In den Wirren des Zweiten Weltkrieges dann wurde das Archipel einige Jahre von den Japanern besetzt, die ein grausiges Regiment führten. Alle Europäer waren kurz zuvor von den Niederländern in Internierungslager gebracht worden, wo sie mehr schlecht als recht zu überleben versuchten. Nach der Kapitulation Japans im Jahre 1945 erklärten die Amerikaner das ganze Gebiet für unabhängig. Von Jakarta aus wurden die Vereinigten Staaten von Indonesien ausgerufen als selbstständiges politisches Gebilde. Nias erhielt den Status eines Verwaltungsbezirks mit einer eigenen Bürgermeisterei in der Hauptstadt. Daraufhin erfolgte die Freilassung der Internierten, die Missionsstation kam rasch wieder auf die Beine, aber nicht wenige Niasser hatten sch inzwischen enttäuscht von ihr abgewandt. Sie konnte ihnen keinerlei Versprechungen auf eine Besserung ihrer materiellen Lage machen, da das Land zu arm war und wirtschaftlich wenig erbrachte. Auch Schwester Elfriede musste bald ihren Dienst aufgeben. Das tropische, feucht-heiße Klima dieses Breitengrades, für einen Europäer mörderisch, fügte ihr einen schweren Leberschaden zu, von dem sie sich zeitlebens nicht wieder erholte. Aber sie trug noch immer, bereits in Pension, ihre Schwesterntracht mit dem charakteristischen, gefältelten weißen Häubchen, und nicht ohne Stolz.

Ich sehe mich mit ihr und einer Schar von Niassern am Hafen von Gunung Sitoli stehen. Unsere Blicke schweifen über das weitgeschwungene Rund der Bucht. Wir erwarten das Fährschiff aus Sumatra. Es soll uns eine neue Krankenschwester bringen, wir brauchen sie dringend. Die Kinder schwatzen und rascheln mit Bambuszweigen in ihren Händen. Es dämmert schon, aber die Sonne ist noch nicht untergegangen. Seht, da kommt es, ruft jemand, und jetzt laufen wir alle klappernd über die hölzerne Landungsbrücke, um die Neuankommende froh zu begrüßen. Ich fahre hoch: Lieber Himmel, was ist los mit mir? Nein, ich brauche nicht immer wieder im Geiste zur Insel zurückzukehren, ich bin eigentlich immer dort gewesen. Nias ist längst zu meiner inneren Heimat geworden.

Hartmut (Edzard) Herlyn, Düsseldorf; *1943