Der Schlüssel

 

Ich bin einmal in eine schlimme Geschichte hineingeraten, nicht ohne eigenes Zutun. Und ob ich da unbeschadet wieder herauskam, weiß ich bis heute nicht. Man kennt sich selbst zu wenig. Doch ich will der Reihe nach erzählen.

Sie können den Schlüssel gerne mitnehmen, sagte der Mann in dem Trödelladen zu mir, er passt sowieso in keines der Möbelstücke hier, gehörte früher zu einem anderen. Er sieht sehr merkwürdig aus, erwiderte ich, als ob man damit geheime Türen öffnen könnte oder eine vergessene Schatztruhe auf dem Dachboden. Er lächelte: Da geht die Phantasie reichlich mit Ihnen durch, Sie glauben wohl noch an Märchen?

Vielen Dank, murmelte ich und ging hinaus. Der Gedanke war in mir aufgeblitzt und ich ahnte, er würde zu Feuer und Flamme werden, verfolgte ich ihn weiter. Nein, besser nicht, überlegte ich, er ist zu abwegig. Da hatte der Händler schon recht.

Wirklich zu abwegig? Du gönntest dir früher mehr an Abenteuern, fuhr es mir durch den Kopf, wie ich abends in meiner Wohnung saß. Du hast ganze Nächte hindurch Kriminalromane verschlungen, hast auf der Gitarre gespielt, dir eigene Kompositionen ausgedacht. Was ist aus deinem Wunsch geworden, einmal in einem Gospelchor mitzusingen, die von dir so geliebten Lieder der Schwarzen? Heute schiebst du bei allem deine Arbeit vor, behauptest, du hättest keine Zeit. Dabei bist du mit den Jahren immer vertrockneter geworden, die ersten grauen Haare lassen sich nicht mehr wegbürsten. Vertrocknet sogar die Lippen, denn selbst deine gefürchteten frechen Sprüche, oft hart an der Grenze zur Gürtellinie, kommen nicht mehr darüber.

Es war bereits Mitternacht. Ich nahm den Schlüssel und schlich mich aus dem Haus. Die Straße, in der ich lebe, ist sehr ruhig, um nicht zu sagen langweilig, aber auch ungefährlich. Langsam bewegte ich mich an den Haustüren vorbei, blickte auf die Schlösser. Natürlich besaßen alle Sicherheitsschlösser, wie könnte es heute anders sein. Dort weiter hinten wohnt doch dieses Rentnerehepaar, fiel mir ein, das immer über die gestiegenen Preise auf Mallorca klagt.

Die Tür des Hauses lehnte nur an. Hatten die Leute vergessen, sie zu schließen? Vorsichtig drückte ich sie weiter auf, und da tappte aus dem dunklen Hausflur eine Katze heraus, lief an mir vorbei, ohne mich zu beachten. He du, komm ganz schnell wieder zurück, rief ich mit heiserer Stimme hinter ihr her. Doch sie war schon zwischen den Schatten verschwunden. In dem Haus gegenüber wurde ein Fenster geöffnet und jemand legte seine Ellenbogen auf das Sims.

Wieder in meiner Wohnung angekommen, betrachtete ich den Schlüssel genauer. Erst jetzt fiel mir an seiner Längsseite ein kleines spitzes, leicht gebogenes Häkchen auf, von mir vorher nicht bemerkt. Also doch, es hatte eine besondere Bewandtnis mit ihm auf Fähigkeiten hindeutend, bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Ich verstaute das Instrument sorgfältig in einer Schublade meines Schreibtisches.

In der darauffolgenden Woche rief mich eine Freundin an. Sie fragte, ob ich nicht Lust hätte, sie zu einem Empfang zu begleiten, den Herr Röder, ein Stadtabgeordneter und Politiker alljährlich zu geben pflege. Sie selbst sei als Protokollchefin des Parlaments dazu eingeladen worden. Es ginge dort immer sehr zwanglos her und man träfe auf interessante Leute. Solch eine hochkarätige Einladung hatte ich im Leben noch nie erhalten. Toll, Verena, nichts wie hin, schallte meine Stimme durchs Telefon.

Am Abend fuhren wir mit dem Taxi vor. In der Dämmerung wirkte das Haus des Abgeordneten eher unscheinbar, aber sein Entree strahlte festliche Erwartung aus. Zumal der Hausherr und seine Gattin jeden Gast zuvorkommend begrüßten, ihm persönlich den Mantel abnahmen. Von irgendwoher kenne ich Sie, sagte Herr Röder. Sind Sie nicht im Sommer immer beim Schützenfest mit dabei, wenn der Königsschuss fällt? Nein, erwiderte ich, Sie verwechseln mich da mit jemandem. Ich tauge nicht dazu, fahre schon bei dem kleinsten Schuss zusammen. Wie gut, dass es auch solche Menschen gibt, lächelte Frau Röder.

Im Wohnzimmer standen schon viele Gäste in Gruppen herum. Sie unterhielten sich lebhaft, tranken Sekt. In einer Ecke stimmte sich ein Klavierspieler auf seinem Instrument ein, wohl für ein Konzert zu späterer Stunde. Verena steuerte den Speisentisch im Hintergrund an, der geschmackvoll hergerichtet war. Schling nicht gleich alles in dich rein, ulkte sie und stieß mich in die Rippen. Sie gab einem Paar die Hand, ihr offensichtlich bekannt. Die drei lachten laut auf. Ich sah mich um.

Seit dem Betreten des Hauses befand ich mich in einer seltsamen Unruhe und woher sie rührte, konnte ich mir nun erklären. Ich hatte nämlich sogleich etliche antike Möbelstücke in den Blick genommen, mit denen wohl die ganze Wohnung ausstaffiert war. Was sich in ihrem Inneren verbarg, sollte mich nichts angehen, doch kribbelte es schon heftig in meinen Händen.

Eine Tür, vermutlich in ein Nebenzimmer führend, stand offen und ich bewegte mich unauffällig darauf zu. Das kleine Gemach wurde nur schwach von einer Stehlampe erhellt, ihr Schein ließ die neben ihr stehende Spiegelkommode umso geheimnisvoller aussehen. Welch ein Prachtstück aus echtem Kirschbaumholz!

Ich bemerkte, dass außer mir niemand im Zimmer war und flink zog ich meinen Schlüssel aus der Hosentasche, stieß ihn in das Schloss der obersten Schublade, zerrte daran. Sie schob sich einen Spalt vor, dann glitt sie wieder zurück und das Schloss schnappte zu. Es galt, war ich einmal dabei, einen zweiten Versuch zu wagen. Nur tief durchatmen!

Was machen Sie denn da, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich herum. Der Hausherr stand im Türrahmen, blickte mich mit hochgezogenen Brauen an. Ich habe mir nur diese wunderschöne Kommode anschauen wollen, räusperte ich mich, wie, wie alt ist sie denn?

Sie hantierten doch gerade mit einem Gegenstand daran herum, ich sah es genau, fuhr mich Herr Röder an. Nein, wieso, nichts, entgegnete ich, ich habe bloß meine Hände über das Holz gleiten lassen. Er schüttelte den Kopf: Sonderbar, sehr sonderbar ist das. Dann ging er langsam wieder hinaus. Ich stolperte ihm hinterher auf schwankendem Boden.

Im Salon herrschte eine leicht beklommene Atmosphäre. Ein paar Gäste standen bei der Dame des Hauses, die nervös ihren Hals betastete. Ich verstehe das nicht, sagte sie, eben war sie noch da. So viel ich weiß, schenkte Ihr Mann sie Ihnen einmal zum Hochzeitstag, bemerkte jemand. Herr Röder aber hatte sich neben sie gestellt, schweigend, und ich glaubte wahrzunehmen, dass er starr zu mir herüberschaute. Da senkte ich schnell den Kopf.

Ein kurzer Augenblick der Verwirrung nur, zum Glück. Denn wir hörten aus der Küche die helle Stimme Verenas. Sie kam ins Zimmer geeilt, hielt eine Perlenkette hoch. Hier ist sie, rief sie, bitte keine Panik! Ich sah sie soeben auf einem Camembert liegen und wunderte mich: Wie kommt denn die dahin? Sie legte Frau Röder mit pathetischer Geste den Schmuck um den Hals, geschickt das Schlösschen befestigend. Gut, dass die Perlen nicht einzeln in Ihren Ausschnitt gekullert sind, Frau Röder, ließ sich ein Herr vernehmen. Alle lachten jetzt und fanden sich bald wieder in Grüppchen zusammen.

Als ich mir ruhiger geworden eine Zigarette anzündete, steifte jemand flüsternd an mir vorbei: Das ist ja gerade noch mal glimpflich ausgegangen für Sie. Im Weitergehen drehte Herr Röder sich mit mokant verzogener Miene herum. Ich blickte angestrengt in eine andere Richtung, die Zigarette fiel in den Aschenbecher.

Kurz darauf verabschiedete ich mich. Verena hatte sich neben den Pianisten ans Klavier gesetzt und beide bemühten sich, vierhändig eine Melodie zu intonieren. Lange nicht geübt, hörte ich sie sagen. Der Mann lächelte: Durststrecken sollte man schnell überwinden, kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie es geht. Verena: Darf ich fragen, wie Sie das meinen?

Erschöpft ließ ich mich zu Hause in einen Sessel fallen. Du bist ja völlig kaputt, dachte ich. Und mechanisch befühlte meine Hand die rechte Hosentasche, doch sie rutschte daran ab. Ich stand auf, griff in die Rocktasche, suchte meinen Mantel ab, fingerte vergeblich nach dem Schlüssel. Schließlich zog ich die Hose aus und schüttelte alle Kleidungsstücke durch, aber das Ding sprang mir nicht entgegen.

Du hat ihn verloren, sagte ich mir, wahrscheinlich im Haus der Röders liegengelassen, in deiner Verwirrung nicht mehr auf ihn geachtet. Wenn der Herr ihn fände, klemmte ich arg in der Zange. Er würde mich bei der Polizei anzeigen, wegen versuchten Einbruchs. Eine Aktennotiz wäre das mindeste, was auf mich zukäme. Ach was, am besten alles abstreiten. Bei einer Gerichtsverhandlung würde ich die ganze Sache als groteskes Missverständnis darstellen.

Verena hatte sich ja recht flott mit dem Pianisten amüsiert. Ich war ihr zu langweilig. Felicitas ist uns entlaufen, hatte mir die Rentnerin neulich vor der Trinkhalle erzählt. Dann lassen Sie sich eine neue Katze schenken, meinte ich. Sie wandte sich mürrisch ab: Man sieht, Sie haben keine Ahnung von Tieren. Frau Röder lachte laut auf: Solche Menschen muss es auch geben. Der Pianist tat nur so, als ob er ein Alleskönner wäre, sein Äußeres wirkte im übrigen ziemlich ungepflegt. Felicitas, ein ganz und gar unpassender Name für eine deutsche Katze.

Er klingelte an der Haustür. Das wird die Polizei sein, durchzuckte es mich. Ich ging durch den Flur und öffnete. Wer das stand war kein Geringerer als der Stadtabgeordnete. Hier bitte, Sie haben etwas vergessen, rief er, ich fand ihn auf der Kirschbaumkommode, die Sie heute Abend so bewundert haben. Er gehört doch Ihnen?

Ich nahm ihm wortlos den Schlüssel aus der Hand, wankte zurück in die Wohnung. Herr Röder folgte mir. Nehmen Sie bitte Platz, sagte ich kühl, mir ist überhaupt nicht klar, was Sie wollen. Ich kenne diesen Schlüssel nicht, habe nie einen solchen besessen. Der Schlüssel, den ich beim Trödler entdeckte, sah völlig anders aus, er hatte vorne... Meine Stimme knickte ab, wie mir bewusst wurde, dass ich mich ein weiteres Mal verhedderte, ein tödliches weiteres Mal.

Herr Röder blickte schweigend vor sich hin. Nach einer geraumen Weile hob er den Kopf und fragte: Ist es so schwer, zu sich selbst zu stehen? Und beim Hinausgehen bemerkte er noch: Sie brauchen nichts zu befürchten, ich denke, Sie werden das geregelt kriegen. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Ich betrachtete das schimmernde Metall noch einmal. Nein, es war nichts Besonderes daran, gar nichts. Es sah so aus wie alle anderen alten Schlüssel auch. Ein paar Wochen trug ich ihn noch mit mir herum, ohne ihn wieder zu benutzen. Dann fehlte er eines Tages, ich hatte ihn verloren. Das passte zu mir. Vielleicht wird ihn irgendwann ein anderer finden, den ich allerdings warnen muss: Ganz so harmlos, wie er tut, ist er nun auch wieder nicht. Felicitas, Felicitas, komm ganz schnell wieder zurück!

Hartmut (Edzard) Herlyn, Düsseldorf; *1943