Der Schrei

 

Ich setzte mich der jungen Frau gegenüber wie jeden Morgen, wenn der Platz gerade frei war. Sie sah sehr gut aus, war fein gekleidet und ich bewunderte sie. Heimlich nur, denn ein allzu langes Starren in ihr Gesicht gehörte sich für einen wohlerzogenen Jungen meines Alters nicht. Ich hob nur hin und wieder den Kopf von meinem Heft, tat so, als ob ich die lateinischen Vokabeln memoriere, was sich meist als zwecklos herausstellte. Mein Gehirn nahm ihre Fremdartigkeit nie richtig an, die Gedanken liefen ohnehin immerfort in andere Richtungen.

Wir wohnten damals in Wülfrath und ich fuhr jeden Tag mit dem Autobus nach Mettmann, um als stolzer Sextaner das dortige Gymnasium an der Neanderstraße zu besuchen. Die anderen Pendler zwischen diesen beiden Kleinstädten in Niederberg waren alle erwachsen, gingen pflichtbewusst ihren Brotberufen nach. Da fühlte ich mich auch schon fast wie einer von ihnen. Also besser aufgepasst und nicht so dahergeträumt!

Frühmorgens war es noch dunkel und kalt in den Wintermonaten, ein ständig ungemütlicher Tagesbeginn. Die Kapuze meines Anoraks abstreifend setzte ich mich wie gewohnt in die Nähe der jungen hübschen Frau. Doch heute zeigte sich eine Veränderung auf ihrem Gesicht, sie blickte ernster als sonst vor sich hin. Lag es daran, daß seit gestern ein Herr neben ihr Platz nahm, der ihr allzu dicht auf den Leib zu rücken schien? Er war ebenfalls gut gekleidet, trug einen teuren Ledermantel. Den konnten sich in jenen Jahren trotz des aufsteigenden Wirtschaftswunders nur wenige leisten.

Er sah die Frau fragend und leicht herausfordernd von der Seite an, seine Lippen bewegten sich tonlos. Als er ihre abweisende Haltung wahrnahm, lächelte er unsicher und mochte neue Überlegungen anstellen. Die junge Frau schaute stumm aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, wo es kaum etwas zu sehen gab. Dann zog sie eine Illustrierte hervor, die sie offenbar mehr interessierte als ein Gespräch mit dem Herrn neben ihr.

In den nächsten Tagen wiederholte sich das Spiel. Der Bus ruckte an, der Mann wandte sich der Frau zu und blieb erfolglos in seinen Bemühungen wie zuvor. Ich beobachtete die zwei, nun schon gänzlich unverhohlen. Sie gaben eigentlich ein schönes Paar ab, wie sie so nebeneinander saßen. Merkwürdig nur, daß die Frau sich auffallend ablehnend verhielt. War da vielleicht früher etwas zwischen ihnen geschehen, von dem ich nichts wusste, es allenfalls ahnen konnte? Geheimnisvoll und spannend, dachte ich, es wird immer spannender.

Am darauffolgenden Morgen hatte er ihr etwas mitgebracht. Er hielt ein kleines, schmales, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen in seinen Händen, zögerte eine Weile, ihr verfinstertes Gesicht betrachtend, bevor er es ihr entschlossen hinüberreichte. Murmelte ein paar Worte dabei, die ich nicht verstand. Was mochte darin sein, fragte ich mich, vielleicht eine goldene Armbanduhr? „Jetzt ist es aber genug“, zischte die junge Frau, „laß mich raus, ich muß zur Arbeit!“ Sie ging zum vorderen Ausgang, der Mann folgte ihr. Nein, das darfst du nicht verpassen, wie das Abenteuer ausgeht, durchzuckte es mich. Und ich stellte mich unauffällig an die hintere Tür des Busses. Wir waren noch gar nicht im Zentrum Mettmanns angelangt, erst in einer der Vorstadtstraßen, die noch ziemlich weit entfernt von meiner Schulhaltestelle lag.

Auf dem spärlich beleuchteten Weg sah ich die beiden schon ein ganzes Stück vor mir herlaufen, aber ich konnte jeden Satz ihres heftig geführten Wortwechsels verstehen. „Wenn du mir doch einmal zuhören würdest“, flehte der Mann. Sie unterbrach ihn: „Scher dich zum Kuckuck, ich will nichts mehr von dir wissen.“ Sich alle Mühe gebend ihn abzuschütteln, rannte sie weiter, floh vor ihm: „Laß mich endlich in Ruhe!“ Lief auf den Eingang des nächsten Wohnhauses zu, als wollte sie dort Schutz suchen.

Ich drückte mich schnell an die Mauer seiner Seitenwand, bemerkte erst jetzt, dass die Schulmappe nicht wie immer an meinem Arm hing. Sie fuhr wohl, von mir liegengelassen, im Bus ins Nirgendwo hinein. Das würde Ärger geben zu Hause.

„Wenn die Sache neulich ein Mißverständnis war, sollten wir darüber reden, aber laß mich nicht so hängen“, hörte ich den Mann sagen. „Ich habe die Nase voll von deinen Sprüchen“, gab die Frau zurück, „alles leeres Geschwätz.“ Der Mann in beschwichtigendem Ton: „Susanne, hast du alles vergessen, was zwischen uns gewesen ist? Du kannst mir nichts vorwerfen, außer dass ich dich liebe.“ Sie lachte auf: „Noch so ein Spruch wie aus einem schlechten Film. Unter Liebe, da stelle ich mir weiß Gott etwas anderes vor als das, was du mit mir treibst.“ „Was soll das“, sagte er, „du verdrehst mir jedes Wort“. Die Frau: „Hör bitte auf, mich so anzufassen. Laß mich sofort los, sonst fange ich an zu schreien und rufe die Polizei!“ „Wage es nur, du“, stieß der Mann hervor.

Meine Neugier war inzwischen einer Beklommenheit gewichen, die mein herz klopfen ließ. Ich preßte die Hände vor die Brust und überlegte: Konnte man irgendwie helfend eingreifen? Nein, ein lächerliches Unterfangen wäre das, mich obendrein als heimlichen Lauscher hinter der Wand entlarvend. Stille auf der Straße und Angst in mir. Dann hörte ich das klatschende Geräusch wie von einem Schlag in ein Gesicht, den Schrei aus der Kehle der Frau. Er hallte von den Häuserwänden wider und schrecklich. Da gab es kein Halten mehr in meinem Versteck. Ich lief an den beiden vorbei, mit den Schuhen auf das Pflaster klappernd, um mich bemerkbar zu machen. Der Mann fuhr erschrocken herum, im Flur des Hauses flammte Licht auf.

„Das ist der Junge aus dem Bus“, rief die Frau, „sein Vater ist Pfarrer in Wülfrath!“.

An diesem Morgen kam ich viel zu spät zum Unterricht, erfand eine zerstreute Ausrede, fühlte mich aber doch ein bisschen erleichtert.

Ein paar Wochen später sah ich die junge Frau im sonntäglichen Gottesdienst in der Wülfrather Kirche wieder. Sie hatte sich in eine der hinteren Reihen gesetzt, wo es dämmerig war. Ich drängte mich nach vorne in die Bank der Konfirmanden, die immer etwas zappelige Schar. Vater hielt die Predigt, bei der er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer rasch auf sich zu ziehen wusste. Einmal drehte ich mich zu der Frau herum und suchte ihren Blick aufzufangen, aber es gelang mir nicht. Sie schloß die Augen.

Der Gottesdienst ging seinem Ende entgegen. Amen, murmelten die Leute. Während des Orgelnachspiels bewegten sie sich einander grüßend zum Ausgang hin. Als ich an den letzten Reihen vorbeikam, trat die junge Frau auf mich zu und flüsterte: „Warte einen Augenblick, ich muß mit dir sprechen. Ich weiß, du hast alles mitgekriegt und das war nicht gut. Aber ich bin als Kind genauso gewesen, wollte immer alles wissen, was sich zwischen den Erwachsenen abspielte. Hier, gib das deinem Vater von mir.“

Sie holte ein kleines Päckchen aus ihrer Handtasche, sorgfältig in Seidenpapier eingebunden, und fuhr fort: „Ein kleines Geschenk nur, es ist so, ich möchte ihm danken.“ „Wofür danken“, fragte ich erstaunt. Sie lächelte: „Ich habe es dazugeschrieben, du verstehst das noch nicht.“ Und sie wandte sich zum Ausgang: „Gerd ist vorige Woche nach Süddeutschland gezogen“, fügte sie hinzu „er hat dort die die Leitung einer Filiale seiner Firma übernommen. Gott sei Dank, kann ich nur sagen, es war nicht mehr auszuhalten mit ihm.“

Später übergab ich Vater das Päckchen. „Ist das von Susanne“ fragte er, „ich sah sie vorhin in der Kirche, eine frühere Konfirmandin von mir, die ich längst aus den Augen verloren hatte. Was erzählt sie denn?“ „Sie ist jetzt nicht mehr mit diesem Gerd zusammen“ erwiderte ich. Vater runzelte die Stirn: „Gerd, welcher Gerd, wen meinte sie?“ Ich schaute verlegen zu Boden. Ihm von den Geschehnissen zu berichten fiel mir zu schwer, und so schwieg ich lieber. Ein Lächeln zog seine Mundwinkel ironisch nach oben, wie er sagte: „Das Ganze hat etwas mit deinem verbummelten Schulzeug zu tun, stimmt´s?“ „Ich konnte die Klamotten ja am nächsten Tag in der Rheinbahnstelle wieder anholen“ stotterte ich. Doch er hörte es nicht mehr, hatte bereits die Tür seines Studierzimmers hinter sich zugemacht.

Was sich in dem Päckchen befand, habe ich nie erfahren. Vater redete nicht darüber, wie er überhaupt der Meinung war, dass die Probleme anderer Menschen nicht in die Ohren Dritter gehörten. Er trug vieles mit sich herum, was ihn manchmal und mitten im Gespräch plötzlich verstummen ließ. Dabei war sein Wesen eher heiter getönt. Susanne lief ich später noch ein paar Mal über den Weg. Sie grüßte flüchtig von der anderen Straßenseite herüber und eilte weiter. Ich schaute ihr nach.

Hartmut (Edzard) Herlyn, Düsseldorf; *1943